Entscheidungsfreiheit. Ein vager Gedanke.
Keine Sorge, das wird keine philosophische Debatte über den freien Willen im Rollenspielformat. Aber es könnte eine werden, schätze ich. Mir lief bei meiner wöchentlichen Webcomicroutine wieder ein Gedankenanstoß über den Weg, zu dem ich ein bisschen länger ausholen und fabulieren muss. Danke Oglaf, dass du die Dinge auf den Punkt bringst, sodass ich in Ruhe ziellos labern kann.
Eines dieser Worte, das beim Geschichtenerzählen in Videospielen immer wieder thematisiert wird, ist Railroading. In Spielen, die auf die Persönlichkeit von Figuren und die Atmosphäre der Story Wert legen oder den Spieler schlichtweg vor Konfliktsituationen stellen, steht immer wieder die Frage im Raum, welchen Einfluss dieser Spieler hat. Videospiele sind in dem Fall ein interessanter Fall und der Schlüssel zu ihrer einzigartigen Rolle liegt im Wort Controller. Ganz egal ob Maus und Tastatur, Gamepad, Joystick oder wildes Rumgefuchtel geht es bei Videospielen immer um Kontrolle. Da das Maß an direkter Interaktion mit der Umgebung theoretisch derart hoch ist, sind Spiele, die versuchen eine Geschichte zu erzählen, oft damit beschäftigt, die Freiheit des Spielers zu begrenzen und zu streamlinen, um ein halbwegs geschlossenes Erlebnis zu erzeugen. Die Konsequenz daraus können so stupide wie invisible walls sein. Wenn es um Story und Figuren geht, sind es jedoch oft viel eher direkte Bevormundungen des Spielers durch Cutscenes mit offensichtlichen Fehlern, die unumgänglich sind. Solche Situationen werden meist nur müde belächelt, aber hinterlassen oft genauso gut einen bitteren Nachgeschmack. Für mich persönlich erzeugt die größte Frustration beispielsweise ein Plottwist, der seit Stunden an Spielzeit offensichtlich war, aber dann von der Erzählstruktur des Spiels so portraitiert wird, als wäre ich blindlings in die Situation gestolpert oder von der Finesse des Erzählers überlistet worden.
Um ein hohes Maß an Kontrolle über die Funktionsweise eines Spiels wird Wissenschaft und Sport betrieben. Das Zählen von Frames bei Fighting Games. Actions per Minute bei einem RTS. Kiting in Hack&Slashs. Doch die Art von Kontrolle über Inhalt, Story und vor allem Entscheidungen hat einen eigenen Platz in der Gamingkultur. In den letzten Jahren wachsen Open-World-Konzepte wie The Elder Scrolls, Grand Theft Auto oder Mount&Blade zu einem Kultstatus heran, da sie dem Spieler ein höchstmögliches Maß an Freiheit über eine Welt und die Rolle der Spielfigur in ihr geben, mit der sier tun oder lassen kann, wonach immer ihnen der Sinn steht. In anderen Bereichen geht es konkreter zu, wenn nicht völlige Freiheit der Fokus ist, sondern ein möglichst komplexes Maß an Entscheidungen, die entsprechende Konsequenzen und Reaktionen mit sich ziehen. Ein klassisches Beispiel wäre hier natürlich Deus Ex oder Bloodlines, aber auch ein Spiel wie Lone Survivor. Letzteres nenne ich vor allem, da es mit der direkten Verantwortung für die körperliche und geistige Gesundheit des Protagonisten in meinen Augen einen sehr lebensnahen Blickwinkel auf Entscheidungsfragen ermöglicht.
Warum rede ich seit drei Absätzen über Videospiele, die nicht einmal zwingend RPGs sind?
Pen&Paper, aber auch auch jedes andere Format von Rollenspiel, in dem ein Spieler eine leitende oder erzählende Funktion einnimmt, kann aus dieser Perspektive eine Menge lernen. In Pen&Paper ist die Kontrolle über den erzählten Raum ein Kernthema, dessen Relevanz oft übersehen oder nur belächelt wird. Dass es verschiedene Spielleiterstile und unterschiedliche Anforderungen, sowie Erwartungshaltungen gibt, ist irgendwo selbstverständlich, doch die damit verbundenen Problematiken gehen gelegentlich unter. Entgegen der Pauschalisierung „Jeder Meister hat eben seinen eigenen Stil“ denke ich, dass dieser Spruch gerne eine technische und formelle Ebene verdeckt, über die es oft Gesprächsbedarf gibt. Railroading wie es in manchen Videospielen betrieben wird, um den Spieler genau dort zu halten, wo die Szene und der Erzähler des Spiels ihn haben will, ist eigentlich ein recht typisches Rollenspielthema.
Die klassische, negative Geschichte geht ungefähr so: Eine Spielsession beginnt und der Erzähler / Spielleiter hat einen konkreten Verlauf vorgesehen, durch den sier die Gruppe manövrieren will. Das funktioniert oft recht stereotyp über Menschen, die wollen, dass die Charaktere etwas für sie tun. Die Spieler wissen ebenso wie der Spielleiter „wie das läuft“ und ziehen mit, weil der Spielleiter das ja so vorgesehen hat. Selbst wenn die Spieler versuchen alternative Wege einzuschlagen, kehrt die Geschichte doch auf kurz oder lang wieder dahin zurück, wo sie hinlaufen sollte. Entscheidungen sind eine Färbung, aber keine Entscheidung im eigentlichen Sinne. In der unschönsten Situation für alle Beteiligten haben bestimmte Figuren des Spielleiters so etwas wie eine Plot-Armor, (die auch Videospielentwicklern leider total gut gefällt,) um für zukünftige Szenen verfügbar, wichtig und zentral zu sein. Mein einfachstes Spielleiter-Mantra in dieser Hinsicht ist immer: Setz‘ keine Nicht-Spieler-Charaktere in die Gruppe, die mehr mit der Story zu tun haben als die Gruppe selbst.
Dieser generische Ablauf ist einer der Gründe, warum jeder Pen&Paper-Spieler sofort das Prinzip einer Quest in MMORPGs versteht. Interessanterweise wirkt sich die Adaption des Prinzips ins Quest-Format nach meinem Gefühl wiederum umgekehrt auf das Verhalten im Rollenspiel aus, wenn Figuren nur noch als Questgeber identifiziert werden. Negative Reinforcement in seiner Reinform. Das Prinzip bewegt sich gelegentlich auf eine Meta-Ebene, bei Spielleiter im besten Wissen, dass Spieler auf „Questlines“ anspringen, diese Anzeichen streuen, um die Routinen zu durchbrechen oder schlicht ihre Spielgruppe zu trollen. Der schlimmste Fall – dessen ich selbst auch nicht ganz unschuldig bin – ist so eine „Ihr habt die ganze Zeit für die Bösen, statt für die Guten gearbeitet, weil ihr die Situation nie in Frage gestellt habt. Ich hoffe wir haben heute alle etwas gelernt“-Moral. Aber diese Dynamik ist ein Thema für sich.
Diese Beispiele gibt es allerdings auch in anderen Varianten. Der Spielleiter, dessen relevanter Figur mit einer ausgearbeiteten Backstory von Spielern umgebracht wird, bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte. Hierbei erstaunt mich immer wieder, dass es insbesondere durch Gamers zu einem Running Gag geworden ist, aber eigentlich in meinen Augen nicht direkt komisch. Vor allem wenn man sich als Erzähler tatsächlich für seine Nebenfiguren interessiert und sie nicht nur als Mittel zum Zweck ansieht. Einer der Gründe, warum ich mich gelegentlich gegen den Ausdruck NPC sträube, weil sofort mit meinem Kopf der Satz „Naja, war ja nur’n NPC mitschwingt.“ Die Spielergruppe, die einfach die Hinweise nicht verstehen will oder keine Lust hat ihnen nachzugehen, ist auch einer dieser Klassiker. Dadurch sind erst Überlegungen wie die Three Clue Rule entstanden. Es gibt noch Unmengen weiterer Geschichten dieser Art, die vom Ungleichgewicht zwischen Erzähler und Spieler im gemeinsamen imaginären Raum erzählen.
Kurzum, Entscheidungsfreiheit im Rollenspiel ist ein schwieriger Balanceakt. Es ist niemals nur ein großer, böser Erzähler, der den Charakteren seinen Willen aufdrückt und diese zu reiner Reaktion zwingt. Oft tritt die umgekehrte Situation ein: ein Spielleiter hat die Bühne für Schauspieler vorbereitet, aber es kommen nur Zuschauer zur Show, die sich nach einer halben Stunde über die leere Bühne wundern. Die banalste Grundlage ist hier selbstverständlich ein Konsens aller Spieler zu diesem Thema. Damit meine ich einen tatsächlich offenen, klaren Dialog, was sich die einzelnen Parteien vom Rollenspiel erwarten und wie sich das unter einen Hut bringen lässt. Selbstverständlichkeit ist hier für mich eine ganz beklemmende Sache, da sie offenen Dialog hindert.